R. Wichum u.a. (Hrsg.): Zur Geschichte des digitalen Zeitalters

Cover
Titel
Zur Geschichte des digitalen Zeitalters.


Herausgeber
Wichum, Ricky; Zetti, Daniela
Reihe
Geschichte des digitalen Zeitalters
Erschienen
Wiesbaden 2022: Springer VS
Anzahl Seiten
VI, 183 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Christopher Kirchberg, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Als Zeithistoriker:in bleibt es nicht aus, von den eigenen Forschungsfragen im (Arbeits-)Alltag eingeholt zu werden. So dürfte es auch Ricky Wichum und Daniela Zetti ergangen sein, die während der Corona-Pandemie vor allem mit Hilfe von digitalen Videokonferenzen den vorliegenden Sammelband „Zur Geschichte des digitalen Zeitalters“ zur Publikationsreife brachten. Er geht auf eine Tagung am Collegium Helveticum Zürich im November 2018 zurück1 und verfolgt die überzeugende Annahme der Herausgeber:innen, dass digitale Technologien „Angebote an die Gesellschaften dar[stellen], die diese nutzen (oder gerade nicht), um sozialen Wandel zu verhandeln“ (S. 2). Indem sie betonen, dass Wandel durch Technik (mit-)gestaltet wird, wenden sich Wichum und Zetti explizit gegen technikdeterministische Deutungen der Digitalisierung und verorten sich im noch recht jungen Feld einer Kulturgeschichte der Technik.2

Da die Herausgeber:innen die Digitalisierung somit eben auch als sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Prozess begreifen, rücken Fragen der Konkurrenz von medientechnischer Transformation und „strukturelle[r] Veränderungen sozialer Systeme“ (S. 2) in den Blick. Gezeigt wird, wie dabei nicht nur (mediale) Formen der Kommunikation, sondern immer auch gesellschaftliche Zukunftsvorstellungen ausgehandelt wurden. Hierzu versammelt der Band neben (Technik-)Historiker:innen auch Kultur- und Medienwissenschaftler:innen, die in ihren Beiträgen „die mannigfaltigen Anpassungs- und Synchronisierungsprozesse zwischen digitalen Medienumbrüchen und sozialstruktureller Veränderung“ (S. 3) seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren. Dazu untersuchen sie „die Rede vom digitalen Zeitalter mit seinen Brüchen, Periodisierungen und Projektionen“ (S. 4) und versuchen, „die fluiden Differenzen zwischen Erfahrung und Erwartung“ (S. 3) zu historisieren.

Dieser Agenda folgend fasst Christian Ritter in seinem Beitrag die „digitale Gesellschaft“ in Anlehnung an Reinhart Kosellecks Zugänge zur Historischen Semantik3 als fortwährende vergegenwärtigte Zukunft. Anhand von politischen (PR-)Strategiepapieren in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus den 2010er-Jahren untersucht er „Mechanismen, durch welche Vorstellungen einer technik- und innovationsgetriebenen Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft im strategischen Zusammenspiel institutioneller Akteure fabriziert und kommunikativ an subjektive Handlungs- und Erfahrungsräume angeschlossen werden“ (S. 14). Ritter zeigt unter anderem, dass sich die Rede von der zu ergreifenden „Chance“ – beispielsweise der Partizipation am Arbeitsmarkt – als praxisleitendes, wiederkehrendes Motiv in den Strategiepapieren zur digitalen Transformation ausmachen lässt, um die digitale Zukunft in der Gegenwart zu gestalten und individuell erfahrbar zu machen.

Die folgenden beiden Aufsätze erweitern ebenfalls die Perspektiven der bisherigen Digitalgeschichte. So betrachtet Florian Hoof am Beispiel des Begriffs „Generation“, welchen Formen narrativer Konstruktion die Geschichte des digitalen Zeitalters unterliegt. Mittels dieses zentralen Ordnungsbegriffs der Computerindustrie und -geschichte würden technische Spezifikationen der Computer verabsolutiert und soziomaterielle Dimensionen der Maschine untergeordnet. Indem dieses Generationenverständnis oftmals zur Beschreibung des Zusammenhangs von technologischen Entwicklungen und sozialem Wandel herangezogen werde, würden die darin eingeschriebenen technischen Kohäsionsbehauptungen auf soziale Phänomene übertragen und beispielsweise die Logik von Gerätegenerationen mit der „homogen erscheinenden Nutzergeneration“ (S. 45) verkoppelt. Deshalb plädiert Hoof für die Verwendung eines stärker sozialtheoretischen, auf Kontingenz setzenden Generationenbegriffs im Anschluss an Karl Mannheim und umreißt dessen Potentiale für die Geschichtsschreibung des „digitalen Zeitalters“: Hierüber, so das schlüssige Argument, könne sich die Computergeschichte aus der engen Bindung an die Technikgeschichte lösen und mehr „über gesellschaftliche Selbstvergewisserung, die Funktionsweise sozialer Integration und die Stabilität soziomaterieller Lagen berichten“ (S. 47). Malte Thießen plädiert in seinem Beitrag gar für eine Umkehrung bisheriger Forschungsperspektiven: „Ausgangspunkt einer Gesellschaftsgeschichte des Digitalen sollte nicht das Digitale sein, sondern die Gesellschaft.“ (S. 54) In seinem empirisch dichten Beitrag gelingt es ihm, anhand von vier Untersuchungsfeldern – Landwirtschaft, Schule, Raumplanung und Wirtschaftsförderung in (Nordrhein-)Westfalen – im Rahmen der Digitalisierung(en) verhandelte Hoffnungen, Selbst- und Zukunftsbilder sowie Hierarchie- und Machtfragen bzw. Generationenkonflikte ebenso wie gesellschaftlichen Wahrnehmungswandel und Gewöhnungsprozesse sichtbar zu machen. Gerade sein regionalgeschichtlicher Ansatz verdeutlicht überzeugend das „Nebeneinander unterschiedlicher Digitalisierungsprozesse“ (S. 72) sowie die lange Dauer digitaler Transformationen vor Ort.

Die folgenden zwei Aufsätze spüren den Versprechen des Informationsgewinns und der Teilhabe an der digitalen Transformation nach: Michael Homberg widmet sich dem „elektronischen Kolonialismus“ und verfolgt dabei die These, dass die Debatten um eine globale Informations- und Kommunikationsordnung die „Nord-Süd-Ost-West-Beziehungen“ (S. 80) im Kontext des Kalten Krieges geprägt hätten. Anhand von UNESCO-Archivmaterial zeigt er, wie die Vorstellung eines „free flow“ von Informationen in den 1950er-Jahren als Schlüssel für „Entwicklung“ und „Fortschritt“ zu einer globalpolitischen Aushandlungsarena wurde. Fragen nach Dynamiken kultureller Hegemonie und Autonomie im digitalen Zeitalter der Globalisierung führen von der frühen Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Inwiefern durch technische Errungenschaften in westlichen Gesellschaften größere politische Teilhabe und Emanzipation erreicht werden sollten, beleuchtet Eva Schauertes Beitrag „Interaktives Fernsehen und Computer-Demokratie“. Anhand von Fallbeispielen aus der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten zeigt sie, wie abstrakte zeitgenössische Gesellschaftsentwürfe beispielsweise der „politischen Kybernetik“ und „Computer-Demokratie“ (Helmut Krauch) oder emanzipatorische Vorstellungen des Medienphilosophen Vílem Flusser genutzt wurden, um das Fernsehen interaktiv zu gestalten: in Experimenten mit direkter telefonischer Beteiligung wie in der Sendung ORAKEL (WDR, 1971/72) oder über eine Fernbedienung mit Wahlmöglichkeiten namens QUBE, die 1979 in Columbus, Ohio, getestet wurde. Diese Versuche trugen laut Schauerte zu einer „fundamentale[n] Reorganisation der Kultur“ in den 1970er-Jahren bei (S. 123) und entfachten in einer von medialen Umbrüchen gekennzeichneten Epoche einen Diskurs über politische Teilhabemöglichkeiten.

Hieran zeitlich anknüpfend beschäftigen sich die letzten drei Beiträge mit dem Aufkommen des Internets – das eben nicht den Beginn des „digitalen Zeitalters“ markiert, wohl aber eine neue Phase. So zeigt Oliver Kiechle anhand der Geschichte des „Usenets“, das Ende 1979 von Studierenden der US-amerikanischen Duke University als anti-elitäres Netzwerk ins Leben gerufen wurde, wie Fragen nach der Freiheit des Internets bzw. im Internet sowie nach notwendiger Regulierung die Debatten schon seit den ersten Vernetzungsversuchen der 1980er-Jahren begleiteten. Anhand von Überlieferungen zeitgenössischer Kommunikation der Mitglieder des Usenets zeigt der Beitrag, wie das Dilemma zwischen freier Meinungsäußerung und Regulierung der Kommunikation zur Aufspaltung der Community in jeweils eigene soziale Strukturen führte. Deshalb sei das Internet seit jeher „nicht nur in der technischen Entwicklung als ein Netz von vielen Einzelnetzen zu betrachten“ (S. 140).

Mit Blick auf Internetcafés in Deutschland fokussiert Stefan Udelhofen „Erprobungsorte“ bzw. Akteure der Veralltäglichung des World Wide Web zwischen 1995 und 2004. Anhand der aufmerksamen medialen zeitgenössischen Beobachtungen spürt der Beitrag gleichermaßen den optimistischen wie pessimistischen Erwartungen an die Cafés nach. Mit ihnen verbanden sich zunächst wirtschaftliche und soziale Hoffnungen der Revitalisierung von Kaffee- oder Kaufhäusern oder ganzer Stadtteile, um öffentliche Räume zu erhalten und neu zu kreieren. Während die Cafés auf der einen Seite die Wahrnehmung des Internets als Informations- und Kommunikationsmedium prägten, scheiterten auf der anderen Seite Versuche, sie als „kollektive Spielorte“ (S. 159) zu etablieren, vor allem aufgrund negativer Erfahrungen mit sogenannten „Spielhöllen“ an politischen und rechtlichen Bedenken in den frühen 2000er-Jahren.

Beschlossen wird der Band von Arianna Borrellis Aufsatz über das naturwissenschaftliche Online-Netzwerk arXiv, auf dem seit 1991 Forschungsergebnisse als Preprints niedrigschwellig veröffentlicht werden können (https://arxiv.org, 10.12.2022). Ausgangspunkt war das heutzutage mit dem arXiv verbundene Narrativ einer „digitalen Befreiung wissenschaftlicher Kommunikation“ (S. 166) bzw. der dahinterstehenden Utopie eines kostenlosen, globalen und demokratischen Wissensaustausches. Indem der Beitrag den (technologischen) Kontext der Entstehung von arXiv ernstnimmt, hinterfragt Borrelli die Bedeutung der „historischen Akteure“ (S. 180) im Entstehungsprozess. Stattdessen rückt sie vor allem das Wechselspiel von digitalen Medien und wissenschaftlicher Kommunikation als Faktoren in den Mittelpunkt, die arXiv als Plattform für Forschungszwecke erfolgreich machten – und bis heute machen.

Die hier versuchte knappe Besprechung aller Beiträge des Bandes verdeutlicht, welches Potential eine gesellschaftsgeschichtliche Erweiterung der Geschichte der Digitalisierung bietet – und welche Themen unter derlei Fragen (neu) betrachtet werden können. Die Texte dokumentieren vielfältige Erwartungen und ständige Rekonfigurationen von Utopien, Versprechen und Zukunftsentwürfen, die an die Digitalisierung gestellt wurden bzw. mit ihr einhergingen. Dabei interagierte die Transformation des Digitalen in ihrer konkreten Praxis mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und gestaltete diese so mit – oftmals mit unintendierten Folgen. Inwiefern diese Entwicklungen wiederum auf die technologische Seite zurückwirkten, deuten die Beiträge mit ihrem Fokus auf die gesellschaftlichen Erwartungen und Vorstellungen vom Digitalen nur am Rande an. Aus historiographischer Sicht ließe sich zudem einwenden, dass der Begriff des „Digitalen“ von den Autor:innen recht unspezifisch verwendet wird und bisweilen zwischen Analyse- und Quellenbegriff changiert – was sicher auch am zeitlichen Zuschnitt des Bandes liegt: Denn die „Geschichte des digitalen Zeitalters“ reicht bis in die Gegenwart und macht eine trennscharfe Einordnung auch deshalb so schwer, weil der Untersuchungsgegenstand gewissermaßen ein moving target darstellt. Umso bedeutender ist der hier vorgenommene programmatische Versuch von Ricky Wichum und Daniela Zetti, der den eigenen „Anspruch auf Anregung“ voll erfüllt und nicht nur „Wege in die digitale Gesellschaft“ verfolgt4, sondern zugleich fragt, „wie das Digitale transformiert wurde“ (S. 1). Die Buchreihe „Geschichte des digitalen Zeitalters“ soll sich den hier vorgestellten „widersprüchlichen Erfahrungen, weitreichenden Erwartungen, schwierigen Lernprozessen, gewitzten Lösungsstrategien und verlässlichen Hoffnungen“ (S. 1) dieser Transformation weiter widmen.5

Anmerkungen:
1 Siehe die Videodokumentation der Vorträge unter https://video.ethz.ch/speakers/collegium-helveticum/digital-societies/geschichte.html (10.12.2022).
2 Vor allem sei hier auf die Arbeiten von Martina Heßler verwiesen, z.B.: Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt am Main 2012.
3 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979.
4 Siehe etwa Frank Bösch (Hrsg.), Wege in die digitale Gesellschaft. Computernutzung in der Bundesrepublik 1955–1990, Göttingen 2018.
5 In dieser Reihe ist zuvor erschienen: Thomas Walach, Geschichte des virtuellen Denkens, Wiesbaden 2018.